Im November 1520 machte Martin Luther sich ans Werk, das „Magnificat“ (Lk 1,46-55), jenen Lobgesang Mariens auf Gottes Heilswirken, den sie bei der Begegnung mit ihrer gleichfalls schwangeren Verwandten Elisabeth anstimmte, zu kommentieren. Auf Bitten des erst 18-jährigen Herzog Johann Friedrich von Kursachsen, ihm ein Lehrbuch des guten Regierens zu verfassen, wählte Luther genau diese Schriftstelle als Fundament und Leittext seiner Darlegungen. Nach eigenem Bekunden kenne er - wie Luther in seinem Begleitschreiben an den Fürsten eigens betont -, „in der gesamten Literatur nichts, was dazu ebenso gut dienen könnte wie dieses heilige Lied der hochgepriesenen Mutter Gottes. Alle, die gut regieren und als Herren segensreich sein möchten, müssen es sich gut einprägen und merken, singt sie doch darin auf das allerlieblichste von der Furcht Gottes und davon, was für ein Herr er ist, vor allem davon, welche Werke er an den Hochgestellten und an den Niedrigen tut“.
Die Übersetzung des Magnificat, welche Luther seiner Auslegung zugrunde legte, lautet wie folgt:
„Meine Seele erhebt Gott, den Herrn. Und mein Geist freut sich an Gott, meinem Heiland. Denn er hat mich, seine geringe Magd, angesehen. Deswegen werden mich Kinder und Kindeskinder in Ewigkeit selig preisen. Denn er, der alle Dinge tut, hat große Dinge an mir getan, und sein Name ist heilig. Und seine Barmherzigkeit währt von einer Generation zur anderen für alle, die ihn fürchten. Er handelt mächtig mit seinem Arm und zerstört alle, die im Innersten ihres Herzens hochmütig sind. Er setzt die großen Herren von ihrer Herrschaft ab und erhöht die, die niedrig und gering sind. Die Hungrigen sättigt er mit Gütern aller Art, die Reichen aber lässt er leer ausgehen. Er nimmt sein Volk Israel auf, das ihm dient, an das er in seiner Barmherzigkeit denkt. So hat er es ja unseren Vätern versprochen, Abraham und seinen Kindern, in alle Ewigkeit.“
Nun lassen die äußeren Umstände, unter denen Martin Luther seinen Kommentar dieses Textes verfasste - am 10. Oktober 1520 erreichte ihn die Bannandrohungsbulle von Papst Leo X., die er zwei Monate später, am 10. Dezember 1520 in Wittenberg verbrannte - einen Text von derart großer Tiefe, wie er ihn hiermit schließlich vorgelegt hat, eigentlich gar nicht erwarten. Und doch gelang ihm gewiss eine beeindruckende exegetische Schrift, die zugleich tief anrührend von meditativem Geist durchdrungen ist. Wenngleich nicht als ausdrückliche Skizze seiner marianischen Frömmigkeit und noch viel weniger als systematischer Entwurf einer eigenen Mariologie intendiert, vergessen wir nicht die eigentlich inhaltliche Veranlassung dieses Kommentars, begegnen hier doch Grundzüge eines Marienverständnisses Luthers, das ganz ohne Zweifel sein zentrales Anliegen der Gnaden- und Rechtfertigungslehre erkennen lässt. Das urreformatorische, von Luther mitgeprägte Leitmotiv „sola gratia“ (allein durch Gnade gerechtfertigt, d.h. errettet) in Einheit mit dem „sola fide“ (allein durch Glaube), versteht sich nach eigenem Selbstverständnis von Anfang an als im Gegensatz zur katholischen Lehre stehend, die - so der zugespitzt formulierte reformatorische Vorwurf - eine bloße Werkgerechtigkeit, also eine vor allem auf menschliche Verdienste basierende Rechtfertigung, verkünde. Tatsächlich stellt(e) sich die katholische Doktrin in Theologie und kirchlicher Lehre zu dieser Frage weitaus vielschichtiger dar, als der reformatorische Angriff es vermuten lässt: Letztlich ging es hier immer um das rechte Zusammendenken von göttlicher Gnade und der immer auch notwendigen, ebenfalls gnadengetragenen Mitwirkung von Seiten des Menschen, auf dass die Rechtfertigungsgnade auch zum Ziel gelangen könne.
Im Oktober 1999 wurde dann ja auch endlich mit der „Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ bekundet, dass zwischen Lutheranern und Katholiken ein Konsens in Grundsätzen der Rechtfertigungslehre besteht. Es trifft aber - um der Wahrheit die Ehre zu geben - ebenso unbestreitbar zu, dass katholische kirchliche Praxis und geübte Frömmigkeit damaliger Zeit nicht grundlos Anlass zu dem Vorwurf einer bloß menschengemachten Werkgerechtigkeit gaben, die das einzigartige Kreuzesopfer Christi als gewissermaßen alleinige Herzmitte der Erlösung zu verdunkeln drohte. Wenn nun in der Marienlehre so etwas wie der Kristallisationspunkt auch der Soteriologie, also der Lehre von der Erlösung, auszumachen ist, dann nimmt es nicht Wunder, dass im Zuge der Auseinandersetzungen um die Fragen von Gnade, Rechtfertigung und menschlicher Mitwirkung die Mariologie ebenso kontrovers diskutiert werden musste. Den umstrittenen Punkten an dieser Stelle im Detail nachgehen zu wollen, würde den hier gesetzten Rahmen indes bei weitem sprengen. Überdies würde das bloße Aufzeigen von bis in die Gegenwart hinein bestehenden Desideraten der Mariologie im ökumenischen Gespräch naturgemäß auf das Trennende fokussiert bleiben. Und genau hier liegt die große Chance für beide Seiten, die evangelische wie die katholische, durch Martin Luthers „Magnificat-Kommentar“ vor allem fundamental Gemeinsames zu entdecken und vor allem wohl auch - in oftmaliger Unkenntnis dieser Schrift - darüber zu staunen, wie marianisch Luther eigentlich tatsächlich war. Für ihn ist die Gottesmutterschaft der Jungfrau Maria der Grund, „dass sie innerhalb des ganzen Menschengeschlechts eine einzigartige Person ist über alles“ (572, zit. nach: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 7, Weimar 1897, S. 538-604, Einleitung S. 538-543, Text S. 544-604). Sie ist „ohne Sünden“ (573) und hat einen „hohen, lieblichen Geist“ (556). Hier trifft vollauf zu, was Franz Courth in seinem 1983 erschienen Aufsatz „Das Marienlob bei Martin Luther. Eine katholische Würdigung“ (MThZ Bd. 34/4 (1983), 279-292, hier:280) grundsätzlich so formuliert hat:
„Mag für Katholiken der Weg über Maria helfen, Luther ein wenig näher zu kommen, so kann umgekehrt evangelischen Christen Luther den Zugang zu Maria erschließen“. Es soll hier nun gerade nicht darum gehen, die Magnificat-Auslegung Luthers inhaltlich vorzustellen. Vielmehr sollten Neugier und Lust geweckt werden, diese Schrift einmal selbst zur Hand zu nehmen und mit Gewinn zu lesen. Neu zugänglich gemacht wurde sie anlässlich des Reformationsgedenkens im Jahre 2017 unter dem Titel: „Magnificat und Luther. Martin Luther, Das Magnificat, verdeutscht und ausgelegt. 1521 mit einer Einführung von Horst Gorski“, Hrsg. Arbeitsstelle Reformationsjubiläum 2017 der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland, Lutherische Verlagsgesellschaft Kiel.
Pfr. Dr. Christian Schulz,
Hahnbach mit Gebenbach