Ein Auszug aus der Karfreitagspredigt 2022
Pfarrer Stefan Fischer
Es ist das Bild eines kleinen Jungen, das in diesen Tagen um die Welt geht. Er ist vielleicht 6, 7, 8 Jahre alt. Er steht in einem Vorgarten eines Hochhauses. Man sieht, dass die Erde umgegraben wurde, wieder eingeebnet ist. Vor ihm ist ein kleiner Erdhaufen zu sehen, über den er sich beugt. Drauf ein Holzkreuz. Er hat auf der Erde zwei Dinge abgestellt: Eine Tüte Orangensaft und eine Dose mit irgendetwas zu essen. Es ist das Grab seiner Mutter. Die russischen Streitkräfte hatten den Ort belagert, die Mutter sei verhungert. An ihr Grab bringt er das, wonach sie gerufen hatte, wie Jesus. "Mich dürstet". Er versteht noch nicht. Er versteht noch nicht, dass sie nun nicht mehr essen und auch nicht trinken kann.
Es sind solche Bilder, die in diesen Tagen über den Fernseher laufen, die den Atem anhalten lassen. Brutalität und Unmenschlichkeit, für das es schwer Worte gibt.
Karfreitag erinnert an eine qualvolle Hinrichtung. Soldaten, die Spaß dabei zu haben scheinen, andere zu erniedrigen und zu verspotten. Ein Tod, der uns heute auch in Großaufnahme vor Augen geführt wird. Zu sehen: Jesus in der Luft - abgehoben von der Erde - am Kreuz. Ihn, den Menschen, dem der Boden unter den Füßen geraubt wurde. Ein Mann, der im wahrsten Sinn des Wortes in der Luft hängt. Alleinegelassen.
Jeden Tag sehe ich diese Menschen heute wieder. Jeden Tag gibt es sie. Leider. Jeden Tag hängen Menschen in der Luft. Bodenlos. Ich sehe den Jungen mit der Tüte Orangensaft, die er ergattert hat, und seine tote Mutter und die verscharrten und versteckten Opfer von Massakern und Gräueltaten. Den Mann, der mit seinem Fahrrad auf der Straße liegt. Umgefallen. Niedergeschossen.
Menschen, denen der Boden unter den Füßen geraubt wurde.
Karfreitag, liebe Gemeinde, ist der Tag an dem das Bodenlose zeigt, welche zerstörerische Kraft es hat und was es anrichten kann. Karfreitag ist der Tag, an dem es noch siegt. Und doch, im Blick auf das Kreuz wird mir klar, an welcher Seite Christus zu finden ist. Er ist bei denen, die keinen Boden unter den Füßen haben.
Noch siegt das Bodenlose. Auch jetzt noch werden Menschen aus dem Leben gerissen, Menschen auseinander gerissen.
Noch hängt Christus am Kreuz.
Noch hängt alles in der Luft.
Noch ist keine Rettung da.
Noch …